Ihre Geschichte steht in keinem Buch

03. August 2019

Kürzlich hat der Bund die Kantone für den Umgang mit den Minderheiten ermahnt. Jenische und Sinti finden in Schulbüchern kaum statt.

Die letzte Absage kam vor gut zwei Monaten. Damals entschied der Gemeinderat von Thal, den provisorischen Durchgangsplatz für Schweizer Jenische und Sinti im Gebiet Fuchsloch nicht weiter zu verfolgen. Einmal mehr war die Schaffung von Plätzen gescheitert, auf welche die rund 5000 Jenischen und Sinti angewiesen sind, die in der Schweiz noch als Fahrende unterwegs sind. 

Nur einen Monat ist es her, dass das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die Kantone und Gemeinden daran erinnert hat, wozu sie eigentlich verpflichtet wären. Nämlich nicht nur dazu, «genügend Stand- und Durchgangsplätze zu schaffen». In seinem Mail vom 26. Juni gibt das EDA weitere «Empfehlungen für ein umgehendes Handeln» ab. Unter anderem heisst es, die Kantone und Gemeinden sollten «sämtliche, . . . öffentliche Formen von Intoleranz systematisch und unverzüglich verurteilen und die Urheber strafrechtlich verfolgen». 

Ebenfalls gefordert wird, dass «die Kultur und Geschichte von Jenischen, Sinti/Manouches und Roma in die Lehrpläne und Lehrmittel integriert werden, um die Vielfalt und die soziale Integration in der Bevölkerung zu fördern sowie das Bewusstsein für die fahrende Lebensweise und deren Akzeptanz zu stärken». Ihre Geschichte steht nirgends

Tatsächlich steht die Geschichte der nationalen Minderheiten in kaum einem Schulbuch der Volksschule. «Der Lehrplan integriert die Volksgruppen der Sinti, Jenischen und Roma nicht explizit ausgeschildert», schreibt Brigitte Wiederkehr vom Amt für Volksschule auf Anfrage. Vielmehr enthalte dieser «mehrere Inhalte und angestrebte Kompetenzen, die zur Sensibilisierung und Achtung gegenüber Menschen und Tieren heranführen und stärken». 

So würden die Schüler etwa Wissen über die kulturelle Vielfalt der Schweiz und deren Wandel über die Zeit erwerben. Konkret sieht das im Kanton St. Gallen so aus: Auf Oberstufe kommt das Lehrmittel «Zeitreise» vom Klett und Balmer Verlag zum Einsatz. Darin werden die Begriffe Sinti und Roma in drei ganzen Sätzen erläutert. In einem Abschnitt über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg steht: «. . . die Juden waren in den Augen der Nationalsozialisten eine wertlose Rasse . . . Als ‹rassisch minderwertig› galten ausserdem Behinderte, Homosexuelle sowie Sinti und Roma.» 

Tatsächlich wurden zwischen 1935 und 1945 1,5 Millionen Sinti und Roma in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet. Darüber steht nichts. In den Geschichtsbüchern des Kantons St.Gallen steht aber auch kein Wort über die Sprache und Kultur der Sinti, die fahrende Lebensweise eines Teils der Volksgruppen, über das vom Bund eingeführte «Zigeunerregister» oder etwa das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse, bei dem die Stiftung Pro Juventute mit den Behörden bis in die 1970er-Jahre Fahrenden die Kinder wegnahmen. 

Die Sinti besuchen die Schulen gleich selber

Darunter leiden die Betroffenen schon lange. Die Grundlagen für das Zusammenleben aller Kulturen eines Landes würden in der Kindheit und Jugend gelegt, sagt etwa Venanz Nobel, Vizepräsident der jenischen Organisation Schäft Qwant. «Wenn die Gesellschaft akzeptiert, dass die Jenischen, Sinti und Roma ein vollwertiger Teil der schweizerischen Geschichte und Gegenwart sind, muss sie dafür sorgen, dass diese Haltung auch in der Staatsschule so vermittelt wird», sagt er. Das Lehrmittel «Roma – Ein Volk unterwegs» sei vergriffen. Es seien aber Bestrebungen im Gang, neue Lehrmittel zu erarbeiten. Bis es so weit sei, bleibe es einzelnen Lehrern überlassen, die Minderheiten zu thematisieren. 

Statt darauf zu warten, dass die Lehrmittel umgeschrieben werden, möchte der Verein Sinti Schweiz gleich selber aktiv werden. In ihrem Kampf um mehr Anerkennung haben die Sinti letztes Jahr eine Wanderausstellung über ihre Geschichte und Kultur auf die Beine gestellt. Im November letzten Jahres machte diese in Wil Halt. Die Bilder der Ausstellung, die vom Alltag der Sinti erzählen, wurden danach auch im Schulhaus Lindenhof in Wil gezeigt. Man wolle nun weitere Schulen im Kanton St.Gallen und in Zürich besuchen. «Was man nicht kennt, dem begegnet man misstrauisch», sagt die Sintezza Romilda Lehmann. «Wenn schon die Kinder lernen, dass unser Volk einen Namen hat und dass Sinti und Jenische zwar anders leben als Sesshafte, aber nicht so anders sind, könnten sie uns offener begegnen», sagt Lehmann.

Die Empfehlungen des EDA an die Kantone seien zwar «soft laws», also rechtlich nicht verbindlich, aber dennoch ein «starkes Zeichen von Seiten des Bundes zugunsten des Minderheitenschutzes», sagt Simon Röthlisberger, Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende. Die sehr schwierige Standortsuche im Kanton St. Gallen und Negativentscheide wie jener in Thal zeigten zudem auf, dass es enorm wichtig sei, der Bildung mehr Bedeutung beizumessen und bereits Schüler für das Thema zu sensibilisieren. «Mehr Wissen über die fahrende Lebensweise kann dazu beitragen, dass die Bevölkerung zukünftig offener für die Schaffung neuer Halteplätze ist.»

Janina Gehrig, 3.8.2019, TagblattMinderheitenschutz

1998 hat die Schweiz das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert. Damit hat der Bund Jenische und Sinti als nationale Minderheiten anerkannt und sich dafür ausgesprochen, ihre Kultur und Sprache zu fördern und die Lebensbedingungen zu verbessern. Seither überwachen die zuständigen Gremien des Europarats die Schweiz regelmässig, zuletzt vor gut einem Jahr. Zwar sieht der Bund die Notwendigkeit, neue Plätze zu schaffen. Zuständig sind jedoch Kantone und Gemeinden. Oft scheitern die Pläne am Widerstand der Bevölkerung. (jan)