«Die Diebin schadet den Jenischen nur»

13. September 2021

Uschi Waser, Schweizer Fahrende Corona hat viele Fahrende um den Verdienst gebracht, weiss Uschi Waser aus ihrer Arbeit als Beraterin. Deshalb zu stehlen, sei aber auch keine Option. Stephan Künzi Nein, der Diebeszug einer Schweizer Fahrenden, die im Frühling den Raum Bern unsicher machte, lässt sich nicht entschuldigen. Uschi Waser betont es mit Nachdruck. «Entweder ist die Frau eine notorische Schelmin und stiehlt aus lauter Gewohnheit.

Stephan Künzi/Berner Zeitung BZ

Oder sie ist eine Kleptomanin, die krankhaft stehlen muss.» Ziel der Diebin waren bevorzugt Filialen von Migros, Coop und Denner. Mal schob sie einen Wagen voller unbezahlter Einkäufe zum Laden hinaus, mal liess sie Ware unter den Kleidern oder in der Handtasche verschwinden. Zweimal suchte sie gar einen Hofladen heim, was Uschi Waser besonders sauer aufstösst. «Eine meiner Töchter war Bäuerin, und ich weiss, wie hart dieser Beruf ist.»

Im familiären Umfeld rechtfertigte sich die Diebin offenbar damit, dass sie zu wenig Geld zum Leben habe. Verständnis für ihr Verhalten könne die Frau trotzdem nicht erwarten, sagt Uschi Waser. Zweifelhaftes Hilfswerk Als Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische kennt Uschi Waser allerdings auch, wie sie es formuliert, «die andere Seite», die ein Leben als Fahrende, als Fahrender mit sich bringt. Ihr Wissen schöpft sie zum einen aus dem, was sie bei ihrer Arbeit als Beraterin für die Stiftung erlebt. Zum anderen redet sie aus eigener Erfahrung.

Uschi Waser stammt selber aus einer Familie von Jenischen, wie die Schweizer Fahrenden genannt werden. «Die Frau», fährt sie fort, «ist ja vielleicht ein Opfer der Aktion Kinder der Landstrasse.» Gleich ist sie mittendrin im Thema, das sowohl ihre Stiftung als auch ihr Leben seit je prägt: Jahrzehntelang hat das von Pro Juventute gegründete Hilfswerk den Fahrenden die Kinder weggenommen. Um sie zu anderen, vermeintlich besseren Menschen zu machen. Involviert in die Machenschaften waren neben Pro Juventute auch die jeweiligen Vormundschaftsbehörden.

Was den Betroffenen widerfuhr, dokumentiert Uschi Waser mit ihrem Lebenslauf. Die ersten 18 Lebensjahre wurde sie von Heim zu Pflegefamilie zu Heim geschoben, sah sich dabei andauernd rassistischen Vorurteilen und Schimpfwörtern ausgesetzt. «Der Zigeuner klebte förmlich an mir.» Folgen von Corona Diese traumatischen Erlebnisse prägten viele Jenische bis heute, hält Uschi Waser fest. Nicht nur jene übrigens, die selber von ihren Familien getrennt worden sind, sondern auch ihre Nachkommen - die 68-Jährige spricht von einer eigentlichen Tragödie: «Die Angst vor allen Amtspersonen, auch vor Lehrern und Polizisten, wird von Generation zu Generation weitergegeben.

Sie ist tief, tief verwurzelt.» Wer so aufwächst, so ihre Botschaft, traut keinem mehr über den Weg. Welch verheerende Folgen das haben kann, zeigt die Co-«Entweder ist die Frau eine notorische Schelmin und stiehlt aus Gewohnheit. Oder sie ist eine Kleptomanin.» Uschi Waser, Präsidentin Stiftung Naschet rona-Krise.

Mit ihr brach im Frühling 2020 den Fahrenden quasi über Nacht der Verdienst weg. Ans Hausieren war wegen der Kontaktbeschränkungen kaum mehr zu denken, und Messer gab es, weil die Gastronomie geschlossen war, keine mehr zu schleifen. Die Nachwehen sind bis heute spürbar. «In Zeiten der Pandemie haben die Fahrenden an der Haustür für niemanden mehr Priorität.» Und weil viele Jenische von der Hand in den Mund lebten, sei das wenige Ersparte bald aufgebraucht gewesen, so Uschi Waser weiter.

Klar unterstütze man sich gegenseitig in den Familien, doch: «Irgendwann reicht die kleine AHV der Eltern nicht mehr für alle.» Was nun? Wie jeder und jede in der Schweiz konnten auch Jenische auf den Staat zurückgreifen und Sozialhilfegelder und in der aktuellen Krise gar Härtefallgelder geltend machen. Doch genau an diesem Punkt brachen die alten Wunden auf. «Viele wollten mit den Behörden nichts zu tun haben und verzichteten lieber.» Wie schier unüberwindbar der Graben noch immer ist, erfuhr Uschi Waser eins zu eins bei ihren Beratungen.

Mehrfach wurde sie von Hilfesuchenden gebeten, doch den Kontakt zu den Ämtern herzustellen - «aber so, dass es ganz sicher niemand aus unserem Umfeld erfährt». Zu gross ist ganz offensichtlich die Angst davor, von den eigenen Leuten zum Verräter gestempelt zu werden. Uschi Waser wird nicht müde, zu betonen, dass auch Jenische Anrecht auf staatliche Gelder haben. Gleichzeitig stellt sie aber auch fest, dass die Sozialhilfe ihre Bedürfnisse nicht vollumfänglich abdeckt. In erster Linie denkt sie ans Auto, das für die Lebensweise der Fahrenden und vor allem für die Arbeit von Haus zu Haus unabdingbar ist.

«Die Kosten dafür werden nicht übernommen. Das muss sich ändern.» Schlecht fürs Image Allen Problemen und allen Armutsrisiken zum Trotz, Uschi Waser bleibt dabei: «Die Diebin tut uns keinen Gefallen, sie schadet den Jenischen nur.» Wobei: Vielleicht sei sich die Frau gar nicht bewusst, «wie sehr unser Image unter solchen Vorfällen leidet». Gleichzeitig entgegnet Uschi Waser all jenen, die nun gleich alle Fahrenden unter Generalverdacht stellen: Diebinnen und Diebe gebe es in allen Bevölkerungsgruppen und -schichten.

Unter den Fahrenden genauso wie unter den Sesshaften. Corona stellt viele Fahrende zwar vor finanzielle Probleme, eine Diebestour rechtfertigt sich in der aktuellen Krise trotzdem nicht: Uschi Waser, Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische. Foto: Reto Oeschger Das Hilfswerk von Pro Juventute nahm jenischen Familien die Kinder weg, um sie in Pflegefamilien und Heimen unterzubringen.