Graubünden

Wie in anderen ländlichen und wenig erschlossenen Gegenden erfüllten die mobilen Handwerker, fahrenden Händler oder Musiker auch in Graubünden eine wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion. Obwohl der Dreibündestaat seit dem 16. Jahrhundert unzählige Dekrete erliess, die sich gegen «Vaganten, Bettler und fahrende Händler» richteten und man gelegentlich «Vagantenjagden» organisierte, um «fremdes Gesindel» über die Landesgrenzen zu treiben, lebten Sesshafte und Fahrende, wenn nicht miteinander, so doch lange Zeit recht gut nebeneinander. Die Jenischen erhielten meist ohne Probleme die nötigen Bewilligungen und Pässe, um ihr Gewerbe in Graubünden und den angrenzenden Gebieten ausüben zu können.

Mit der Propagierung eines von Ordnung, Sesshaftigkeit und geregelter Arbeit geprägten bürgerlichen Gesellschaftsmodells, geriet die fahrende Lebensweise nach 1850 zusehends unter Druck. Einer der Angelpunkte war die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, die auch in bäuerlichen Kreisen auf Widerstand stiess. Den Bauernfamilien kam man entgegen, indem man die Schule auf die Wintermonate beschränkte und somit die Mithilfe der Kinder im Sommerhalbjahr ermöglichte. Die Jenischen hingegen liess man ungern auf «Reisen» gehen. Ab 1880 schränkten die Bündner Markt- und Hausiergesetzte das mobile Gewerbe und damit auch die fahrende Lebensweise immer stärker ein. Das kantonale Patent musste in jeder Gemeinde neu bestätigt werden, das Mitführen von Kindern unter fünfzehn Jahren wurde ebenso verboten wie das Hausieren in grösseren Familienverbänden.

Politiker, Pfarrherren, Lehrer und Ärzte beschäftigten sich nun immer intensiver mit der Bekämpfung nichtsesshafter Lebensformen. Bereits vor 1900 diskutierte und praktizierte man vereinzelt Kindswegnahmen aus jenischen Familien. 1924 sprach der Grosse Rat des Kantons Graubünden einen jährlichen «Vagantenkredit», um die Sesshaftmachung jenischer Familien fördern. Man stellte Beiträge zum Kauf von Häusern oder für die Fremdplatzierungen der Kinder bereit. Die wissenschaftlichen Schriften von Johann Joseph Jörger, dem ersten Leiter psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, bildeten 1926 auch eine wichtige Referenz bei der Gründung des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Die Pro Juventute konnte stets auf die Unterstützung der Bündner Behörden und Psychiatrie zählen. Fast die Hälfte, nämlich 294 der insgesamt 586 «Kinder der Landstrasse», stammten aus Graubünden.

Die Kritik am «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» und die damit verbundene Öffentlichmachung des erfolgten Unrechts führte einerseits zu einer neuen Wahrnehmung der Jenischen in der Bündner Öffentlichkeit und andererseits zu einem verstärken «Wir-Verständnis» innerhalb der jenischen Minderheit, die sich nun zu organisieren begann.

Der Kanton unterstützt heute die Gemeinden bei der Schaffung neuer Durchgangsplätze. Gleichzeitig bekundet man in Graubünden noch immer Mühe, die Jenischen als Teil der Bündner Geschichte und Kultur anzuerkennen und zu schätzen, obwohl etwa die Bündner Volksmusik massgeblich durch jenische Musiker geprägt wurde.