Walter Wegmüller, Chartres. Mischtechnik auf Leinwand.
Walter Wegmüller, Chartres. Mischtechnik auf Leinwand. Foto: Walter Wegmüller, Bildarchiv Radgenossenschaft.

Jenische Kunst – Zwischen Luft und Erde

Jenische Kunstschaffende produzieren Werke von intensiver Sinnlichkeit, aber oft auch von fragilem Charakter. Ob es jenische Kunst gibt, ist offen. Sicher gibt es Kunst von Jenischen und Fahrenden. Sie arbeiten mit Farbe, Keramik und Steinen, aber auch mit Licht und Luft.

Anfang der 1970er Jahre begann sich jenisches Bewusstsein kollektiv zu artikulieren. Dazu trugen auch Hippies und andere Nichtjenische bei, etwa in der Berner Underground- und Kellerszene. 1974 erregte ein «Zigeuner-Tarot» Aufmerksamkeit, es erschien in Verbindung mit einem Buch des Schriftstellers und Volkskundlers Sergius Golowin. Gemalt worden war es von Walter Wegmüller. Der 1937 in Bern geborene Wegmüller war ein Verdingkind aus der Roma-Bevölkerung. Er wurde später Präsident der Radgenossenschaft und ging den Weg als professioneller Maler. Seine figurativen Werke greifen Geschichten aus der Sagenwelt der Fahrenden auf; sie sind wie die abstrakten Werke von starker Farbigkeit.

Mythisches, Fabelhaftes und Esoterisches findet sich auch in den Bildern seines zeitweiligen Weggenossen Baschi Bangerter (1936–2010). Obzwar kein Jenischer, prägte dieser das Selbstverständnis der Gründerzeit mit.

In einem Referat an einer jenischen Kulturtagung 2007 formulierte Nino Mehr (*1950), der nebst Gemälden Keramikskulpturen herstellt, was manche Künstler bewegt: Er sprach von «magischer Faszination» der Bilder, von «Licht und Klang», die diese einfangen sollen, und dass Kunst für ihn so etwas wie «eine kleine Arche» bedeute. Das verweist auf die Lebensgeschichte vieler Jenischer.

Ausgeprägt ist dies bei Ernst Spichiger (*1951), der in einzelnen Gemälden explizit jenisches Schicksal thematisiert: Da sind Wohnwagen, die von bösartigen Kränen weggehoben werden. Ein Bild, das er in Varianten gemalt hat, zeigt ein Heimkind in der Schlafkammer: Die lächelnde Tagesmaske hängt an der Wand, das demaskierte Gesicht ist angstverzerrt, Trost spenden nur Tiere. In Landschaftsbildern wirken Wiesen wie paradiesische Teppiche. Anzumerken ist, dass Spichiger farbenblind ist und die Farben von den Tuben abliest.

Aus persönlicher Not entstanden sind auch manche Werke von Amateurkünstlern. Die Erzählerin Graziella (1936–2004) hat Steine mit «Zigeuner»-Geschichten bemalt. Sie entdeckte erst spät ihre Herkunft, und ihre Arbeiten dienten auch dazu, eine Identität wiederzugewinnen. Der Bühnenartist und langjährige Strafgefangene Romano (1964–1996), Adoptivkind bei Nichtjenischen, schuf in Bildern und Skulpturen eine zirkusartige Welt, geprägt von Träumen und Sehnsucht.

Romano, Sternengott
Romano (1964–1996), Ein Sternengott, Höhe 13 cm, Ton, getrocknet, Privatbesitz. Foto: Willi Wottreng, Bildarchiv Radgenossenschaft.

Dem existentiell Schweren entspricht auf eigenartige Weise das Spiel mit der Fragilität. Spektakulär bei Ueli Grass (*1943), der jahrelang am Ufer des Zürichsees Skulpturen aus Fundsteinen aufschichtete, säulenartige Gebilde, die jederzeit zusammenzukrachen drohten und doch stehen blieben. Grass spricht davon, dass er in seinen Werken den Menschen «in seiner ganzen Zerbrechlichkeit» spiegle.

Venanz Nobel (*1956), einer der Gründer der Organisation «Schäft qwant», der sich als Marktfahrer bezeichnet, produziert Leuchtskulpturen. Er baut aus Lampen Kunstobjekte mit ironischen Aussagen: «Gutenbergs Erleuchtung», «Besuch vom Mars», «Ohne Krimi geht die Mimi». Da verfestigen sich Marktfunde zu Skulpturen, die ebenfalls keine Ewigkeit beanspruchen.

Angesichts dieser Objekte, fahrender Berufstätigkeit entsprungen, ist zu vermuten, dass auch das einst verbreitete Métier des Möbelhändlers oder des Gemälderestaurators Werke mit Kunstcharakter hervorgebracht hat, die bis heute unbekannt geblieben sind. Ohnehin bleibt noch viel zu entdecken: etwa der Kunstmaler Alois Nobel, genannt «Wiseli» (1930–ca. 2000), von dem Biografisches, aber nur wenige Werke bekannt sind.

Zur sinnlich-erzählerischen und manchmal auch mystisch-märchenhaften Kunst gibt es eine Gegenposition im Werk des Fotografen Roger Gottier (1948–2009). Er hatte eingeheiratet in eine jenische Familie und hielt den Alltag der Fahrenden in oft unspektakulären, feinsinnig beobachteten und sorgfältig komponierten Fotos fest – zweifellos das Authentischste, was über jenisches Leben in Bildern dokumentiert ist.