Text: Thomas Meier
Auf Grund der föderalistischen politischen Struktur der Schweiz hat es auch nach der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats 1848 keine einheitliche Politik gegenüber den Fahrenden gegeben. Dennoch lassen sich grob vier Phasen unterscheiden.
Die erste steht im Zeichen einer Lösung der Heimatlosenproblematik. Danach stand die Abwehr ausländischer «Zigeuner» im Vordergrund. Die Jahre 1926–1973 waren gekennzeichnet durch die systematischen Kindswegnahmen im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse». Die vierte Phase brachte mit der Anerkennung der Fahrenden als nationale Minderheit eine Abkehr von der bisherigen Politik.
Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 wirkte sich auch auf die Politik gegenüber den Fahrenden aus. Für die junge Nation stellte die Heimatlosenfrage eine ordnungspolitische Herausforderung dar, die umgehend angegangen wurde. Im Gefolge des Heimatlosengesetzes von 1850 wurden einheimische Fahrende eingebürgert (Bürgerrecht und Nation). Sie konnten nun immerhin nicht mehr einfach als Heimatlose von einem Kanton in den anderen abgeschoben werden, wie dies vordem üblich gewesen war.
Die beabsichtige Integration der Fahrenden beschränkte sich aber weitgehend auf die politische Ebene. Von der Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen der Gemeinden blieben sie meist weiterhin ausgeschlossen. Einige Gesetze des jungen Bundesstaates und der Kantone führten zu einer Kriminalisierung der fahrenden Lebensweise. Das gilt für die schikanösen Gewerbescheinregelungen ebenso wie für das Verbot, auf den Reisen Kinder mitzuführen. Auch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht war einer fahrenden Lebensweise hinderlich und übte einen starken Zwang auf die fahrenden Familien aus, sesshaft zu werden.
Eine Reportage von Francis Luisier und Jean-Pierre Moutier, Télévision Suisse Romande (TSR), Tell Quel, 5.10.1984. Integrale Version: mehr dazu
Nachdem in den 1870er-Jahren das Heimatlosengesetz auch in den letzten Kantonen (Tessin, Waadt, Wallis) umgesetzt war, verlagerte sich das Interesse der kantonalen Behörden auf die ausländischen Fahrenden. 1888 untersagten Grenzkantone fremden «Zigeunern» den Grenzübertritt. Um die angebliche «Zigeunerplage» zu bekämpfen, erliess der Bundesrat auf Betreiben einiger Kantone 1906 schliesslich ein allgemeines Einreiseverbot für alle «Zigeuner» mit einer anderen Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus verbot er den schweizerischen Transportunternehmen die Beförderung von «Zigeunern» per Bahn oder Schiff, eine Regelung, die sich angesichts der verhängten Einreisesperre faktisch hauptsächlich gegen einheimische Fahrende richtete. Obschon diese Verbote gegen das Grundrecht der Freizügigkeit verstiessen, wurde die Einreisesperre gegen «Zigeuner» erst 1972 aufgehoben. Sie war auch in der Zeit der Verfolgung von Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Deutschland nicht gelockert worden.
Ein Land ohne Zigeuner ist kein freies Land. […] Wir haben in der Schweiz das Recht zu fahren, aber nicht das Recht anzuhalten. […] Heute gibt es Hundefriedhöfe, und selbst Schmetterlinge erhalten ein Papiliorama. Doch für Zigeuner ist nichts vorgesehen. Ich behaupte, dass die Schweiz selbst für Pflanzen den besseren Schutz eingerichtet hat als für uns.
Von Teilen der Mehrheitsgesellschaft beargwöhnt, wurden die Fahrenden als «Vaganten» oder mit anderen abschätzigen Begriffen bezeichnet (Bezeichnungen in den Landessprachen). Ihre gesellschaftliche Marginalisierung zeigt sich auch daran, dass sie am Dorfrand oder abseits von Siedlungen wohnten, wenn sie nicht unterwegs waren. Die Lebensweise der Fahrenden stand im Widerspruch zu bürgerlichen Ordnungsvorstellungen. Das Zivilgesetzbuch von 1912 bot eine gesetzliche Handhabe, überall dort einzugreifen, wo familiäre Missstände offensichtlich waren oder auch nur vermutet wurden. Auch Jenische gerieten ins Visier von Armen- und Fürsorgebehörden. Sie galten aufgrund ihrer Lebensweise als «unstet», «liederlich», «lasterhaft» und unfähig, ihre Kinder zu «anständigen Menschen» zu erziehen.
1924 richtete der Kanton Graubünden einen sogenannten Vagantenkredit ein, um mit Hauskäufen die Sesshaftmachung von Fahrenden zu fördern, aber auch um für den Unterhalt von Kindern aufzukommen, die aus ihren angeblich erziehungsunfähigen Familien entfernt werden sollten. Diese Methode der Kindswegnahme wandte dann namentlich das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» an, das von 1926 bis 1973 bestand und sich die Ausrottung der fahrenden Lebensweise auf ihr Banner geschrieben hatte. Obschon eine private Organisation, bestimmte sie fast fünfzig Jahre lang die Politik gegenüber den Fahrenden in der Schweiz und konnte dabei auf die moralische und finanzielle Unterstützung von Behörden auf allen politischen Ebenen zählen.
Die öffentliche Kritik an den Methoden des «Hilfswerks» 1972 stellte eine Zäsur im Umgang mit den Fahrenden dar. Die jahrzehntelange Verfolgung der jenischen Bevölkerung durch das «Hilfswerk» stiess auf Empörung. Den Fahrenden selber, die sich zu organisieren begannen, wurde zunehmend mit Sympathie begegnet. Von diesem Meinungsumschwung blieb auch die Politik nicht unberührt. 1986 liess der Bundesrat die Akten des «Hilfswerks» sicherstellen, und Bundespräsident Alphons Egli entschuldigte sich für die Unterstützung des «Hilfswerks» durch den Bund. In der Folge wurde eine Aktenkommission eingesetzt, die den Zugang der Betroffenen zu den über sie angelegten Akten regelte. Ferner wurden die von der Aktion «Kinder der Landstrasse» betroffenen Personen für das ihnen zugefügte Leid entschädigt, wofür der Bund 11 Millionen Franken zur Verfügung stellte. Heute sind die Schweizer Fahrenden offiziell als nationale Minderheit und das Jenische als Sondersprache anerkannt. Um die Lebensbedingungen der Fahrenden zu sichern und zu verbessern, wurde 1997 mit Bundesmitteln die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende gegründet.
Eine Reportage von Francis Luisier und Jean-Pierre Moutier, Télévision Suisse Romande (TSR), Tell Quel, 12.10.1984. Integrale Version: www.rts.ch/archives/tv/information/tell-quel/5354584-gens-du-voyage.html