Immer unterwegs, ohne festes Dach Wenn er etwas nicht mag, dann ist es eine heile, geordnete Welt. Seine Welt ist anders und wild.
Von Flurin Clalüna, 26.7.2019, NZZ
Hans Gemperle, 58, ist auf der Durchreise, eigentlich ist er immer auf der Durchreise. Er kommt gerade von der Alp, hat im Altersheim seine Mutter besucht, und jetzt sitzt er auf dem Campingplatz Rania, zwischen Viamalaschlucht und Zillis. Hier kommen seit Jahrzehnten die etwas Anderen und die Originale des Tals zusammen.Und vielleicht passt keiner besser hierher als Hans Gemperle. Er hat in den achtziger Jahren Häuser besetzt und freiwillig auf der Strasse und in Höhlen gelebt. Heute ist er Natur-Pädagoge und verkauft Tierfelle auf Märkten. Gemperle trägt schwere Schuhe und grosse Ohrringe sowie ein schwarzes T-Shirt. Darauf hat er sich selber angeschrieben.Auf dem Leibchen steht, was er ist: «Jenisch». Das gilt immer. Egal, wo er gerade lebt und was er gerade arbeitet. 35 000 Jenische gibt es in der Schweiz. Sie sind eine europäische Minderheit.Vermutlich sind sie in der frühen Neuzeit aus der sesshaften Unterschicht hervorgegangen, die Diskriminierung, Armut oder Hunger in die Wanderschaft getrieben haben. Seit 1998 sind sie in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt. Nur etwa zehn Prozent der Jenischen sind Fahrende, die anderen sind sesshaft. Und dann gibt es die, bei denen es nicht so eindeutig ist. Bei Gemperle ist das so eine Sache mit dem Zuhausesein: Zur Jagdzeit und im Winter ist er hier auf dem Campingplatz Rania, sonst häufig im Wohnwagen im Berner Oberland oder halt anderswo unterwegs.«Ich will nicht in einem festen Gebäude wohnen», sagt er, «das halte ich nicht aus.» Seine Freundin lebt in einer gewöhnlichen Wohnung. Hin und wieder für kurze Zeit bei ihr zu sein: Das geht für ihn gerade noch. Gemperle hat zwei Kinder, eine 28-jährige Tochter und einen 12-jährigen Sohn, von zwei verschiedenen Frauen. Er lebt getrennt von ihnen.Beide sind sesshaft. Vermutlich habe er sich damals bewusst für Frauen entschieden, Lange war er mit dem Rucksack unterwegs, heute lebt er im Wohnwagen. «Ich habe meinen Platz gefunden», sagt Hans Gemperle. die einen festen Wohnsitz hätten, sagt er, «um die beiden Welten zu verbinden». Neben Gemperle sitzt sein Sohn Andri und sagt: «Ich wohne in der Nähe von Thun.Und Papi wohnt überall.» Wo ist Heimat, wenn man überall daheim ist und deshalb vielleicht auch nirgends? «Heimat ist, zusammen um ein Feuer zu sitzen, zu kochen und zu diskutieren. Zu jagen und zu fischen, auch das gehört zu unserer Kultur», sagt Gemperle. Jobs kann er wechseln wie Hemden, er war Metzger, Koch, Gerüstbauer, Pizzaiolo und einiges mehr. Er kann sich gar nicht mehr an alles erinnern.Zwanzig Jahre lang war er mit dem Rucksack unterwegs, in Griechenland in einem alten Geissenstall mit Schlangen und Mäusen und später in einer Höhle in einer Steinhalde; oder im australischen Outback, wo er mit Ausnahme von wenigen Tagen ein Jahr lang nie in einem Bett schlief; und schliesslich auch auf den Strassen von Bern. Dort lebte er vier Jahre als Obdachloser, «freiwillig, ich wollte wissen, wie diese Menschen sind». Heimat sei für ihn nicht an einen Ort gebunden. Sondern an ein Gefühl. «Das Jenische gibt mir Halt.» Viel Sicherheit brauche er nicht in seinem Leben. Aber wenn man so ungebunden ist wie er, dann braucht man vielleicht etwas anderes, das einem sagt, wer man ist. «Es ist in mir drin», sagt Gemperle, «ich weiss, was es heisst, ein Jenischer zu sein.» Und das ist nicht immer einfach. Um den Jenischen eine politische Stimme zu geben, sitzt Gemperle im Verwaltungsrat der Radgenossenschaft der Landstrasse, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti.Entstanden ist sie im Zug der 68er Bewegung. Die Genossenschaft führt auch den Campingplatz Rania. Auch Touristen sind hier willkommen. Schon Gemperles Grossvaters fuhr mit dem Töffli von der Gegend um die Viamala bis nach Obervaz oder in die Lenzerheide. Er hatte keinen Wohnwagen, manchmal ging er auch zu Fuss und übernachtete in Ställen, so wie es sich halt gerade ergab.Erst Gemperles Eltern wurden sesshaft, in Andeer bauten sie ein Haus, da war er drei Jahre alt. Sie taten dies «auch aus Angst vor der Pro Juventute», sagt Gemperle. Deren Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse arbeitete seit 1926 darauf hin, mit Unterstützung der Vormundschaftsbehörden den fahrenden Jenischen ihre Kinder zu entziehen. Der Leiter des Hilfswerks schrieb damals: «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen.» Die Einschüchterung hält zum Teil bis heute an.Gemperles Mutter beispielsweise hat sich dem Jenischen entfremdet. Sie wolle nichts davon wissen und habe seinen Lebensstil bis heute auch nie richtig akzeptiert, sagt er. Es ist immer noch kompliziert, das Verhältnis der Jenischen zur Schweiz. Er sei immer ehrlich durchs Leben gekommen, sagt Gemperle, «aber immer mit dem Stempel auf dem Genick, minderwertig zu sein». Er erlebe auch heute noch Ablehnung.Wie kann man sich in einem Land heimisch fühlen, in dem Leute leben, die einem dieses Gefühl geben? Verändert das die Beziehung zur Schweiz? Gemperle zieht an einer selber gedrehten Zigarette und denkt nach: Eigentlich nicht. Er habe gelernt sich zu wehren, sich durchzusetzen, «ich habe meinen Platz gefunden». Manchmal muss es nicht mehr sein als ein Campingplatz, so wie dieser an der Viamala. Irgendwann soll er zu einem Altersheim für Jenische werden. «Und dann sterbe ich vielleicht hier», sagt Gemperle.