Fahrende Lebensweise ist in der Schweiz akzeptiert

24. Mars 2020

Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung steht der fahrenden Lebensweise sowie den Jenischen, Sinti und Roma positiv gegenüber. Dies zeigt eine von der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) und dem Bundesamt für Statistik (BFS) durchgeführte repräsentative Umfrage. Die Umfrage macht auch deutlich, dass wenig Wissen über die Minderheiten und ihre Lebensweisen vorhanden ist. 

Medienmitteilung, Eidgenössisches Departement des Innern

Erstmals liegen detaillierte Ergebnisse zur gesellschaftlichen Akzeptanz der fahrenden Lebensweise in der Schweiz vor. Zwei Drittel (67 Prozent) der Bevölkerung sehen die fahrende Lebensweise als Teil der Schweizer Vielfalt. 56 Prozent findet, dass die Schweiz mehr für sie tun sollte, etwa gegen den Mangel an Halteplätzen für fahrende Gruppen.

Jenische und Sinti sind heute in der Schweiz akzeptiert. 63 Prozent der Bevölkerung betrachten die Kultur dieser Minderheiten als kulturelle Bereicherung für das Land. Allerdings hatte kaum jemand Kontakt zu den Minderheiten. In allen drei Sprachregionen geben rund 10 Prozent an, bereits einmal bewusst Kontakt zu den beiden Minderheiten gehabt zu haben.  

Für die repräsentative Umfrage des BFS wurden 3000 Personen im Alter von 15 bis 88 Jahren befragt. Zusätzlich ermöglicht ein Bericht der FRB eine Einschätzung der erhobenen statistischen Daten. Dazu sind die Rückmeldungen der im Vorfeld der Erhebung durchgeführten ausführlichen Gesprächen herangezogen und die Einschätzungen von Vertreterinnen und Vertretern der Minderheiten einbezogen worden.

Alle zwei Jahre führen die FRB und das BFS die Umfrage «Zusammenleben in der Schweiz» durch. Bei dieser werden Personen zu ihren Einstellungen zu verschiedenen Formen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit befragt. In den Zwischenjahren wird ergänzend eine separate Vertiefungsumfrage «Diversität» zu jeweils einem spezifischen Themengebiet durchgeführt. Ziel der Erhebungen ist es, ein verlässliches Bild der Herausforderungen zu geben, die sich für das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen in der Schweiz stellen. 

Stellungnahmen und Erkenntnisse von Organisationen der betroffenen Minderheiten: (Zitate zur Benutzung im Rahmen der Berichterstattung freigegeben)

Venanz Nobel, Vizepräsident von Schäft qwant, Mitglied der Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR «Die Bevölkerung brachte deutlich zum Ausdruck, dass sie den Minderheiten mit fahrender Lebensweise sehr positiv gesinnt ist. 75% der Bevölkerung stellen fest, dass es mehr Aufklärung zur Geschichte und Kultur der Jenischen und Sinti in der Schweiz braucht. Die Antworten lassen nur einen Schluss zu: Die Bevölkerung gibt den Minderheiten ihren Platz in der Gesellschaft, sowohl in Form von Plätzen für Fahrende als auch in Form der kulturellen Anerkennung. Sie duldet weder Antiziganismus noch Ausgrenzung. Die Politik darf sich nicht länger hinter befürchteten Vorurteilen der Bevölkerung verstecken. Sie ist aufgefordert, alles Nötige zum friedlichen Zusammenleben endlich umzusetzen. Dass entschlossenes Handeln zum Ziel führt, zeigte auch die Abstimmung im Kanton Bern zur Schaffung eines Transitplatzes für ausländische Fahrende. Die Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz erwarten nun Taten von Behörden und Politik.»

Fino Winter, Präsident des Vereins Sinti Schweiz «In der Bevölkerung ist das Wissen über die Minderheiten sehr gering, dieses Umfrageresultat bestätigt meine eigenen Erfahrungen. Die Bevölkerung ist aber sehr interessiert und wünscht mehr Informationen – das zeigt die Umfrage und freut mich sehr. Wir Sinti haben selbst lange Zeit wenig zur Wissensvermittlung beigetragen, doch in den letzten Jahren haben wir uns geöffnet, wir gehen aktiv auf die Medien zu und leisten unseren Beitrag zur Wissensvermittlung und zur Aufklärung. Für solche Projekte braucht es aber massiv mehr Unterstützung durch die Kantone und den Bund, sonst werden wir das Ziel nie erreichen.»

Uschi Waser, Stiftung Naschet Jenische «Endlich liegen Zahlen vor. Fazit: Es gibt noch viel zu tun, zeigt es doch wie wenig über die Geschichte, die Gegenwart dieser Minderheiten bekannt ist. Dass 82.4 % der Bevölkerung zur Kindswegnahmen im Rahmen von «Kinder der Landstrasse» als «schockierend» bewerten, ist sehr berührend und bestätigt, dass ein gesundes Rechtsempfinden vorherrschend ist. 65.8 % der Bevölkerung unterstützen meine Forderung, dass dieses Unrecht in die Schulbücher muss. Ich fordere das seit 30 Jahren: sobald in der Schule die Schweizer Geschichte behandelt wird, gehört «Kinder der Landstrasse» dazu. Es muss jetzt in die Geschichtsbücher, nur so kann aus der Geschichte gelernt werden.2/2In der Schweizer Bevölkerung ist das Sensorium für Diskriminierung ausgeprägt. Die Alltagsituationen, die von den Betroffenen als besonders diskriminierend empfunden werden, werden in der Umfrage als solche erkannt. Das stimmt einen fast euphorisch. Die Praxis hinkt hinterher. Obwohl Diskriminierungen als solche gewertet werden, will dann doch niemand Menschen mit fahrender Lebensweise – z.B. bei der Suche nach Halteplätzen.»

Stefan Heinichen, Rroma Foundation, Mitglied der Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR «Das Ergebnis ist grundsätzlich positiv, die Akzeptanz der fahrenden Lebensweise höher als angenommen. Um das Wissen in der Schweizer Bevölkerung zu steigern braucht es viel mehr Aufklärung. Gefordert sind der Bund, die Kantone, aber auch die Organisationen der betroffenen Minderheiten, einschliesslich der Roma. Die Medien haben die Verantwortung, ein differenziertes Bild zu vermitteln, das Wissen in der Bevölkerung zu erweitern und zugleich den Antiziganismus als Form des Rassismus zu benennen.Für die Überwindung des Antiziganismus braucht es weitere Anstrengungen, etwa ein nationales Forschungs- und Vermittlungszentrum für die drei Minderheiten, welches für diese Form des Rassismus die notwendige Öffentlichkeit herstellt, Bildungsprogramme lanciert und immer wieder informiert, aufklärt und einordnet.»

Simon Röthlisberger, Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende «Die Resultate zeigen es: Die Mehrheit weiss zwar nicht allzu viel über die Jenischen, Sinti und Roma, aber sie will mit diesen Minderheiten zusammenleben. Einige befürchten allerdings Schmutz und Lärm, wenn ein Platz in der Nähe ist. Aber satte Mehrheiten der Befragten anerkennen nicht nur die Ansprüche auf Halteplätze als legitim (74.5%), sie befürworten sogar explizit Halteplätze, weil so klare und geregelte Verhältnisse möglich sind (82.3%). Auf dieser positiven Grundbereitschaft der Bevölkerung lässt sich der Minderheitenschutz der Jenischen, Sinti und Roma konkretisieren. Dazu braucht es nun unbedingt politische Tatkraft, mehr konkrete Projekte für Halteplätze voranzutreiben.»

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