«Man wollte die Jenischen zum Verschwinden bringen»

10. Mars 2025

Die Verfolgung von Jenischen und Sinti war laut einem Gutachten ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine prominente Rolle spielten dabei auch kirchliche Institutionen, sagt die Religionswissenschaftlerin Carla Hagen.

ref.ch/10. März 2025, Heimito Nollé

Frau Hagen, der Bundesrat hat die Verfolgung der Jenischen und Sinti als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Was bedeutet das für diese Gemeinschaften?

Es ist ein historischer Meilenstein. Für die Jenischen und Sinti bedeutet es, dass ihr Leid und das Unrecht anerkannt werden. Damit kann ein Aussöhnungs- und Heilungsprozess in Gang gesetzt werden. Die Schweizer Bevölkerung ist jetzt aufgefordert, einen selbstkritischen Blick auf dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte zu werfen. Das heisst auch, sich mit den antiziganistischen Stereotypen auseinanderzusetzen, die bis heute wirksam sind.

Einige Betroffene kritisierten, dass der Bundesrat sich nicht explizit bei den Jenischen entschuldigte, sondern lediglich seine Entschuldigung bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen von 2013 bekräftigte. Inwiefern lassen sich diese beiden Kapitel der Schweizer Geschichte vergleichen?
Tatsächlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Schicksalen der Betroffenen beider Gruppen. Jenische wie auch die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen waren in den gleichen Gefängnissen, Erziehungsanstalten und Psychiatrien interniert und beide waren Opfer des Verdingwesens. Der Unterschied ist, dass die Jenischen als Gruppe unter Generalverdacht standen. Sie wurden aus rassistischen beziehungsweise antiziganistischen Gründen verfolgt und hatten daher kaum die Möglichkeit, der Verfolgung zu entkommen. Das wirkt als kollektives Trauma. Es erschüttert alle Jenischen – unabhängig vom Ausmass ihrer Betroffenheit – in ihrer Identität.

Was weiss man über die Verfolgung der Jenischen?
Es gab ein paar vereinzelte Forschungsprojekte, insbesondere zur Pro Juventute-Aktion «Kinder der Landstrasse», bei der zwischen 1926 und 1973 rund 600 jenische Kinder ihren Familien entrissen wurden. Auch Behörden, medizinische und heilpädagogische Einrichtungen sowie kirchliche Hilfswerke waren daran beteiligt. Diesbezüglich bestehen jedoch noch einige Forschungslücken.

In ihrer Dissertation haben Sie die Rolle der katholischen Kirche untersucht. Inwiefern war sie bei Fremdplatzierungen involviert?
Katholische Netzwerke und Institutionen wie das «Seraphische Liebeswerk» waren massgeblich beteiligt. Jenische wurden in katholischen Kreisen bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus als erblich- und milieubedingte ‹besondere Menschengattung› angesehen. Sie galten als triebhaft, gewalttätig und arbeitsscheu. Daher war man der Meinung, ihre ‹Abnormalität› müsse mit restriktiven Massnahmen überwunden werden. Das Ziel war letztlich, die Jenischen langfristig zum Verschwinden zu bringen.

Wie ist die Kirche dabei vorgegangen?
Das Liebeswerk hat die Pfarrpersonen in den Gemeinden dazu aufgefordert, Ausschau nach jenischen Kindern zu halten und diese zu melden. Wurde eine ‹verdächtige› Familie gemeldet, veranlasste die Organisation, dass die Kinder der Familie weggenommen und in ein Heim gebracht wurden. Oft nahm das Liebeswerk auch die Dienste der Polizei in Anspruch. In den meisten Fällen wurden die Kinder bewusst auf verschiedene Heime und Pflegefamilien verteilt, damit sie keinen Kontakt mehr zueinander hatten. Auch die Eltern erhielten keinerlei Informationen, wo die Kinder waren oder wie es ihnen ging.

Handelte das Liebeswerk aus eigenem Antrieb oder im Auftrag der Behörden?
In meiner Dissertation zeige ich, dass das Liebeswerk aktiver in die Kindswegnahmen eingebunden war als bisher angenommen. Vielfach handelte die Organisation zwar im Auftrag der Gemeinde. Es gab aber auch Fälle, in denen sie eine Kindswegnahme gegen den Willen der Gemeinde durchsetzte und sogar vor Gericht zog, um sie zu erwirken. Oft gaben die Gemeinden nach, weil sie an einer kostengünstigen Lösung interessiert waren.

Das Gutachten

Der Bundesrat hat anerkannt, dass die im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» organisierte Verfolgung der Jenischen und Sinti ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» war. Er stützte sein Urteil auf ein Gutachten des Völkerrechtsprofessors Oliver Diggelmann. Dieses war eingeholt worden, nachdem die Radgenossenschaft der Landstrasse – die Dachorganisation der schweizerischen Jenischen und Sinti – verlangte, dass die Verfolgung als «kultureller Genozid» anerkannt werde.

Diggelmann hält in seinem Gutachten fest, dass der Staat eine Mitverantwortung an den begangenen Taten trage. Die Verfolgung der Jenischen und Sinti wäre ohne Mithilfe staatlicher Behörden aller Ebenen (Bund, Kantone, Gemeinden) nicht möglich gewesen, heisst es. Nicht erfüllt sei hingegen der Tatbestand eines «kulturellen Genozids» oder eines Genozids in engerem Sinn, da keine «genozidäre Absicht» vorgelegen habe. (no)