Mariella Mehr: Biografie der Gewalt

15. Septembre 2022

Gibt es noch irgendwas zu sagen ausser: «Lesen Sie bitte!»? Ja, wenn es einfach wäre, eingängig, leicht verdaulich – ist es aber nicht.

WoZ Wochenzeitung / Melinda Nadj Abonji

Bei allen Sternbildern, die Mariella Mehr in ihrer Literatur verewigt hat – aufs Schönste! –, bei allen austreibenden Wortgeschöpfen, die uns hart ins Kreuzverhör nehmen, und ich kann nicht anders, ich muss fluchen: Gopferdammi-nomal-bei-aller-Scheisse! Lassen Sie uns «Steinzeit», «Zeus oder der Zwillingston», «Daskind», «Brandzauber», «Angeklagt» lesen ohne diese falsche, einfältige Kategorie im Kopf: Autobiografie!, getrieben von der lüsternen Frage, war es wirklich genau so oder noch schlimmer? Aber gopferdammi-nomal-nomal-bei-aller-Scheisse!, wenn schon Kategorie, dann eine ganz andere: Mariella Mehr schrieb die Biografie der Gewalt, zeichnete die Landkarte der brutalen Normalität – oft in einem einzigen Wort: Daskind. Nein, kein Abstand zwischen Artikel und Nomen, sondern ein ganz normal respektloses Auf-den-Leib-Rücken (und hechelt da nicht einer atemlos inmitten der Buchstaben?); Daskind, versächlicht, verdinglicht, degradiert (von allem Anfang an), einer Dorfgemeinschaft namenlos zur Verfügung gestellt für die hämisch vollzogenen, von allen mitgetragenen Rituale der Grausamkeit – und Daskind? Wird sich rächen, sich einfügen, einschreiben in die Gewalt, die alle (bis zum Tod) zum Leben erweckt, am Leben erhält. So viel eiserne, hinterhältige Normalität, die in den Wörtern drinsteckt, auch in einem Wort wie Autobiografie, das eine (bürgerliche) Biografie voraussetzt. Und das, obwohl längst bekannt ist, dass Mariella Mehrs Biografie nie sein durfte, abgewürgt wurde vom ersten Atemzug an. Ja, auch dieser Zugriff muss endlich aus der Welt geschafft werden, erst dann können wir lesen – und ich hangle mich von Wort zu Wort und vom Leerschlag zum Satz, von einem Komma zum nächsten Abgrund (Punkt), und wenn ich es fast nicht mehr ertrage, die scharfen Kanten, Wunden, die Verhärtung, die erniedri­gende, die ganz normale bittere ­Normalität, wenn ich verzweifelt einknicke vor lauter sprachmächtiger menschlicher Boshaftigkeit – gerade dann, im Zustand äus­serster, stummer Verzweiflung, einer tauben Angst im Rücken, geschieht immer etwas sehr, sehr Kostbares; hinter dem Vorhang der Hinterhältigkeit höre ich eine klare Stimme, die in ­einer tragenden Ruhe von allen wundersamen, den schönsten Möglichkeiten (der Sprache) erzählt – eine kluge Erzählerin, die mit einer selbstverständlichen Handbewegung an den üppig und zärtlich gedeckten Tisch bittet, ohne Aufhebens zu reden beginnt: «man müsste eintauchen in das lachen, es betreten wie ­einen wilden garten, man müsste sich in den weichen rundungen warmer worte verlieren können, nahe jener farben, die an alte märchen erinnern, eine glückliche träumerei, mit einem zwinkernden auge geträumt, mit einem weiten offenen herzen, das sich nie mehr auf schmerzen reimen würde.» Das unfassbare Glück, an diesem Tisch zu sitzen, in jedem Wort Zuneigung, Wärme, Liebe zu spüren.

Buon viaggio, liebe Mariella.  

Melinda Nadj Abonji

Auf Initiative der Autorin Melinda Nadj Abonji erschien 2014 «Angeklagt» von Mariella Mehr als Hörbuch. Mehrs Bücher haben der Limmat­verlag und der Zytglogge Verlag publiziert.