Fahrende Auf dem Areal beim Schlachthof in Rorschacherberg hat sich eine Gruppe Jenischer und Sinti niedergelassen. Wie lebt es sich auf Rädern? Über den Alltag Schweizer Fahrender.
Menschen aller Altersgruppen berichten vom Leben des modernen Nomaden, der nicht an Wohnort oder Job gebunden ist und von Land zu Land ziehend die Welt erkundet. Es ist ein romantisches Bild, das Freiheit suggeriert und dadurch viele Anhänger findet. Doch während Influencer mit dem Ausbruch aus der Sesshaftigkeit massenhaft Likes und Follower ernten, stossen Fahrende aufgrund ihres Lebensstils meist auf Vorurteile und Misstrauen. Das Stereotyp des unehrlichen «Zigeuners» scheint fest in den Köpfen verankert. Aber wie sieht das alltägliche Leben der Jenischen und Sinti wirklich aus? Nicht ganzjährig unterwegs «Unser Tagesablauf ist im Grunde ähnlich wie der Alltag vieler sesshafter Familien», sagt Ronaldo Birchler.
Er ist Teil der Fahrenden Gemeinschaft, die sich auf dem Gelände beim Schlachthofin Rorschacherbergdas Land gehört der Stadt Rorschach - niedergelassen hat. «Die Männer suchen Arbeit und generieren so das Einkommen. Viele machen sich selbstständig und handeln, wie schon ihre Väter und Grossväter, mit Antiquitäten oder schleifen Messer. Die Frauen organisieren den Haushalt und helfen den Kindern bei den Hausaufgaben», erklärt er die eher traditionelle Rollenaufteilung innerhalb der Familie. Anders als allgemein angenommen, seien Schweizer Fahrende nicht das ganze Jahr durch unterwegs.
Nur während der Sommermonate ziehe die Gemeinschaft von Ort zu Ort. Im Winter lebe man meist sesshaft. «Viele Jenische und Sinti zahlen das ganze Jahr über Miete für eine Wohnung, die sie dann jeweils im Winter bewohnen. Der Rest campiert auf den wenigen Schweizer Standplätzen. Ich zum Beispiel wohne während der Wintermonate auf einem riesigen Platz in Genf mit anderen Fahrenden und Schaustellern», sagt Birchler.
Die meisten ziehe es im Winter zurück zur Gemeinde, bei der sie gemeldet sind. Kinder würden während der sesshaften Zeit ganz normal zur Schule gehen und im Sommer monatlich zurückkehren, um Schulaufgaben für das Heimstudium zu holen. «Natürlich ist der Schulbesuch unglaublich wichtig. Die Kinder müssen auch als Fahrende Lesen, Schreiben und Rechnen können», sagt Birchler. «Beschimpfungen kommen eher selten vor» Die Gemeinschaft verständigt sich untereinander in Romanes (auch Romenes).
Es ist die Sprache der Roma und stammt vom Indischen ab. «Wir sprechen aber alle auch Schweizerdeutsch oder Französisch. Je nachdem, ob wir in der Deutschschweiz oder dem Welschland gemeldet sind», sagt Birchler. Deswegen seien sie keineswegs isoliert in der eigenen Gemeinschaft. «Viele meiner Freunde sind keine Fahrende.
Im Winter habe ich sogar mehrheitlich Kontakt mit sesshaft lebenden Schweizern. Innerhalb der Gemeinschaft sieht man sich den ganzen Sommer durch nämlich schon viel zu oft», scherzt er. Auf offener Strasse würde die Gemeinschaft kaum angefeindet. «Manchmal fahren Jugendliche im Auto an unseren Wohnwagen vorbei und rufen uns Beleidigungen wie oder
Viel häufiger bekäme man Vorurteile und Misstrauen indirekt zu spüren. Zum Beispiel bei plötzlichen Absagen für zugesicherte Plätze, wie sie der Gruppe vor dem Aufenthalt in Rorschacherberg erteilt worden war. Auch die allgemeinen Schwierigkeiten, eine Bleibe zu finden, Hessen sich meist auf ein negatives Bild in den Köpfen der Anwohner zurückführen. «Teilweise werden wir nur schon beim Fragen nach einem Platz verjagt», erzählt Birchler. Deswegen entwickle sich die Route jeweils spontan nach den Aufenthaltsmöglichkeiten.
Wohin es die Gruppe als nächstes zieht, ist offen So kam es auch zum Aufenthalt hier. «Wir waren auf dem Rückweg von einer katholischen Wallfahrt in Deutschland und fanden nirgends einen Platz. Also haben wir hier spontan angehalten und auf das Okay der Gemeinde gehofft», erklärt Birchler. Wohin es sie nach Rorschacherberg zieht, ist noch unklar. Ist ein Platz gefunden, entschädigt die Gruppe den Eigentümer für Strom und Wasser und die Entsorgungskosten des Mülls.
Zusätzlich wird Miete für den Standort gezahlt. «Wir wollen nichts geschenkt», sagt Birchler. Trotz der Schwierigkeiten als Fahrender möchte er kein anderes Leben führen. «Unser Lebensstil ist ein ständiges Aufund Ab. Wir wissen nicht immer, ob es Arbeit oder einen Platz für uns gibt, aber wir kennen es nicht anders.
St. Galler Tagblatt, 21.6.2019, Rahel Jenny Egger